Warum wir (noch!) Fleisch essen dürfen

7. Mai 2013
7. Vortrag in der Reihe „Mensch-Tier-Beziehung im Fokus“
Sabine Eisermann: „Warum wir (noch!) Fleisch essen dürfen“
Sabine Eisermann hielt einen Vortrag, der einen weiten Bogen von ihrem eigenen Lebens- und Erfahrungshintergrund bis zu kosmischen Modellen in der Tradition von Rudolf Steiner schlug. Sie schilderte ihren Werdegang von einer Kindheit und Jugend in der DDR, dem Berufswunsch des Försters (der an der Voraussetzung scheiterte, einen Jagdschein machen zu müssen – was sie ablehnte), ihre schlimmen Erfahrungen in der Milchviehhaltung im LPG-System, das begonnene Gartenbaustudium. Dann folgten Krankheitsphasen, die sie in Kontakt zu ayurvedischen Ärzten und zur Vollwertkost bei Dr. Bruker in der Klinik Lahnstein. Sie lernte die Ge- und Verbote kennen, die ihr zum Teil immer wieder sehr einleuchteten – und diese Gebote konnte sie dann auch gut befolgen. Keine Margarine, da die Emulsion von Fett und Wasser zu unberechenbaren Potenzierungen führen könnte. Honig nie über 40° erhitzen, weil er dann schädliche Wirkung entfaltet. Kein Zucker, je raffinierter der ist, desto giftiger. „Tierisch eiweißfreie Ernährung“ (also eine ohne tierische Eiweiße), d.h. ohne Fleisch, Milch, Eier, allenfalls erlaubt Bruker Sahne im Frischkornbrei. Und und und…
Sabine Eisermann berichtete dann über die BSE-Krise, die möglicherweise durch die Verfütterung von artgleichen Tieren entstanden sein könnte. Millionen Tiere in Deutschland wurden getestet, vierhundert waren infiziert, 13000 wurden getötet. In Großbritannien wurden unfassbare 6000000 (sechs Millionen) Tiere getötet und auf riesigen Scheiterhaufen verbrannt (glaubte man das Böse so austreiben zu können?). Kleine Demeter-Betriebe, die im Einzelfall auch mit sorgsam entwickelten Herden arbeiteten, zu denen ihre behinderten Mitarbeiter kontinuierliche Kontakt haben konnten, wurden an den Rand der Vernichtung getrieben und konnten sich nur mit großer Energie und Widerstandswillen retten.
Damit nahm Eisermann die Kurve zum biologisch-dynamischen Landbau, der Tiere für seine Kreislaufwirtschaft dringend benötigt. Mist, ganze Kuhörner und andere tierische Erzeugnisse sind nötig, um den Boden so natürlich und im Einklang mit Welt und Kosmos zu entwickeln, wie er sein soll. Hornlose Kühe, die heute die Regel sind (entweder durch Züchtung oder durch Ausbrennen der Hörner) kannte Sabine Eisermann aus der DDR nicht. Die Hörner sind wichtige Organe der Tiere, die Milch hornloser Kühe ruft in größerem Umfang Unverträglichkeiten oder allergische Reaktionen hervor.
Hier werden nur Details aneinandergereiht. Im Vortrag von Sabine Eisermann ging es dabei immer um die Zusammenhänge, die systemischen Wechselwirkungen und die Rolle des Menschen dabei. Evolutionsgeschichtlich haben sich werdender Mensch und einige Tierarten aufeinander zu bewegt: Hund, Kuh, Schwein. Andere Tiere sind unabhängiger geblieben (Katze) oder wie die Wildtiere dem Menschen ferngeblieben (wenn sie nicht wie die Waschbären die Bequemlichkeit der Wegwerfgesellschaft zu schätzen wissen). Mensch und Tier haben also in bestimmten Vergesellschaftungen spezieller Haustierarten einen gemeinsamen Weg genommen, auf dem beide profitiert haben. Der Stein gab die Substanz, die Pflanze das Leben, das Tier die Empfindung, der Mensch das Ich. Aufgabe des Menschen ist aus anthroposophischer Sicht, in diesem gemeinsamen Prozess der verschiedenen Beteiligten am Weltwerden Verantwortung zu tragen: die Verwirklichung von Liebe und Freiheit ist Aufgabe des Menschen als derzeitigem Leiter der Entwicklung. Wenn diese Aufgabe erfüllt ist, kann der Mensch zurückstehen und anderen die führende Rolle überlassen. Insofern geht es darum, als Mensch Verantwortung zu übernehmen und zu prüfen, wo ich nützlich sein kann (nicht nur: weniger schädlich).
Sabine Eisermann sprach dem Individuum in  diesem Prozess große Freiheit in der Verantwortung zu. So wie das Kind seine Nahrung selbst auswählen soll, um auf sich hören zu lernen (was schmeckt mir? Was tut mir gut?), so muss auch der Erwachsene prüfen, ob er Fleisch essen kann und will (beispielsweise um den Tieren, die in der Demeter-Kreislaufwirtschaft nötig sind, ihren Platz in der Entwicklungskette zu geben). Das kann und darf keine unkontrollierte Völlerei sein (wie sie heute betrieben und propagiert wird), aber es soll auch nicht verteufelt werden. Es hat seinen Platz. Die Natur wird beschrieben als ein Ort „intelligenter Verschwendung“. Das kann man als Lob aussprechen – und der Mensch darf davon profitieren. Es macht einen Unterschied, ob Tiere gegessen werden, weil das ihre letzte Verwendung im System Natur-Mensch-Tier ist, oder ob sie gezielt gezüchtet und gequält werden, um im Gewinnmaximierungssystem unserer Gesellschaft ausgebeutet und ermordet zu werden.
Natürlich sind diese Positionen (so sie denn hier überhaupt angemessen wiedergegeben werden) umstritten. Eine radikale vegane Ablehnung jeder Tiernutzung steht der flexiblen Haltung von Sabine Eisermann entgegen. Gleichwohl war ihr Vortrag von tiefem Humanismus geprägt, der Tier und Mensch gleichermaßen  einbezieht. Die Verwobenheit von moralischen, ethischen, biologischen, religiösen und psychologischen Betrachtungen wurde deutlich. Das daraus bestehende Ganze ist so komplex, dass wir immer nur Teilbereiche sehen oder verstehen können. Das fordert (wenn man sich dem anschließen will) die Fähigkeit, nicht nur wissen zu wollen, sondern auch glauben und vertrauen zu können. So wurde hier die Beziehung zwischen Mensch und Tier integriert in ein Weltbild. Nicht mehr und nicht weniger.
(Ingo Engelmann)